Kiss. Trust. Love.
Alles begann mit einem Blick.
Das Leben der siebzehnjährigen Hailey steht Kopf, als ein neuer Mitschüler auf der Bildfläche erscheint. Woher Kai kommt, weiß niemand. So fasziniert nicht nur sein gutes Aussehen, sondern auch seine geheimnissvolle Art.
Hailey setzt alles daran, mehr über seine dunkle Vergangenheit herauszufinden.
Während diese droht, Kai einzuholen, entwickelt sich Haileys eigenes Leben zu einer Achterbahnfahrt der Gefühle.
Ist das Band der beiden stark genug, um allen Widrigkeiten zu trotzen?
Triggerwarnung:
Gewalt, Suizid, Alkoholsucht, Übergriffe
Hinweis:
Es handelt sich um die gesammelte Neuauflage der Hailey Blake-Trilogie.
Infos:
Genre: Coming of age Romance, FSK 14
eBook only bei Amazon (Kindle Unlimited)
Release am 5. Mai 2023
Spielt in einer ausgedachten Welt
Leseprobe
1
Mittwoch, 28. August
Er fällt mir direkt auf, als er den Raum betritt. Hellbraune Haare, stattliche Statur und diese unglaublichen Augen. Ich kann den genauen Farbton von meinem Platz aus kaum erkennen, aber sie wirken grau. Blau-grau. Ich starre ihn an, als wäre er ein neues Weltwunder.
O Gott, reiß dich zusammen, Hailey.
Ich senke den Blick, als gäbe es in meinem Matheheft etwas, das viel interessanter ist. Weil das nicht zutrifft, erlaube ich mir erneut einen kurzen Moment, indem ich den Neuen mustere. Die Schuluniform scheint ihm zuwider zu sein. Das Hemd lieblos in die Hose gesteckt, hängt es an einer Stelle hinaus. Die Krawatte liegt locker um seinen Hals, als wäre sie bestenfalls ein Schal. Sein Gesichtsausdruck spiegelt keine Emotionen wider, dadurch wirkt er arrogant.
Er muss verschlafen haben. Offenbar hat ihm an diesem Morgen die Zeit gefehlt, sich vernünftig anzuziehen. Oder es ist ihm einfach egal, dass er schon bald gerügt werden wird, weil er nicht korrekt gekleidet ist.
In diesem Moment lenkt Thalia Mudo meine Aufmerksamkeit auf sich. Wie ein Raubtier auf Beutezug schlängelt sie sich an den Tischen vorbei und sinkt lässig mit einer Pobacke auf das Pult hinunter, die Brust rausgestreckt und mit einem Finger im Haar spielend.
Ich verdrehe genervt die Augen.
Sie sieht zu dem Neuen auf und stößt lediglich ein »Hey« aus. Ihre blonde Mähne ist mit Haarspray fixiert. Diese Menge, bei der man Gefahr läuft, in Flammen aufzugehen, wenn jemand neben einem ein Feuerzeug entzündet. Ähnlich viel Make-up befindet sich in ihrem Gesicht.
Die menschgewordene Barbie.
Der Neue würdigt sie keines Blickes, dabei fällt es anderen in der Regel schwer, ihr Äußeres zu ignorieren.
»Ich bin Thalia«, fährt sie nach einer Pause fort. »Thalia –«
»Mudo!«
Sie ist merklich zusammengezuckt, als ihr gebrüllter Name das Getuschel im Raum im Keim erstickt hat.
Während jeder versucht, auf dem schnellsten Weg zu seinem Platz zu kommen, lehnt der Neue lässig an der Wand. Er ist augenscheinlich völlig unbeeindruckt von dem Erscheinen unseres Mathe- und Sportlehrers Mr. Jason Qurandi.
Er, seines Zeichens stellvertretender Schuldirektor, ist ein furchtbarer Lehrer. Niemand – wirklich niemand – mag den Kerl. Jeden Tag grauenhaft gelaunt, wird er schnell beleidigend und ist nicht zögerlich beim Verteilen von Strafarbeiten, weshalb sein Auftauchen etwas auslöst, das einer Panik ähnelt.
Es dauert nicht lange, bis ihm auffällt, dass jemand im Raum nicht sofort den Kopf einzieht. »Du.« Qurandi kneift die Augen zusammen, bis sie bloß noch Schlitze sind, und deutet erst ungeniert mit dem Finger auf den Fremden und dann in unsere Richtung. »Setzen.«
Der Neue stößt sich mit dem Fuß von der Wand ab und lässt im Vorbeigehen einen Zettel auf das Lehrerpult fallen.
Mr. Qurandi, der schon fast schäumt vor Wut, nimmt ihn an sich. »Euer neuer Mitschüler Kai McKenzie«, brummt er schließlich.
Ich schaue zu meinem besten Freund Alex, der breit grinst und die Situation offenbar amüsant findet.
»Blake!«
Dass mir kein erschrockener Laut entfahren ist, ist reiner Zufall. Zögerlich hebe ich die Hand.
»McKenzie, neben ihr ist ein freier Platz«, weist er ihn an, obwohl Kai sich im selben Moment bereits auf den Stuhl sinken lässt. »Wenn Sie Fragen haben, stellen Sie sie ihr.Und das gefälligst erst nachdem Unterricht.«
Kai McKenzie scheint sich für nichts und niemanden zu interessieren. Als der Gong ertönt, der das Ende des Schultages verkündet, habe ich ihn noch immer kein Wort sagen hören. Mein Blick haftet an ihm, als er seine Bücher in den Spind räumt, während ich unkonzentriert zur Tarnung dasselbe tue.
Alex wirft sich vor mir gegen den Schrank, die Arme verschränkt und noch immer dieses dämliche Grinsen im Gesicht. »Mathe war richtig cool.«
»Sicher«, erwidere ich tonlos, wende dabei aber nur kurz den Blick von dem Neuen auf der anderen Seite des Flures ab.
»Hast du Qurandis Gesichtsausdruck gesehen, weil er ihn ignoriert hat?«
Alex scheint mit Humor an die Sache heranzugehen, das tut er immer. Weil ich aber trotzdem nicht reagiere, folgt er meinem Blick und sein Grinsen wird breiter. Er stolziert auf Kai zu und lehnt sich dort wieder gegen einen Spind.
Langsam, um bloß nicht in das Bevorstehende hineingezogen zu werden, folge ich ihm. Ich kenne Alex’ aufdringliche Art und bin mir sicher, dass Kai sich dadurch gestört fühlen wird. Es gibt vermutlich einen Grund, wieso er den ganzen Tag mit niemandem gesprochen hat.
»Hey.« Alex hat wohl versucht, mit der Betonung des Wortes cool und lässig zu wirken. Ich mag ihn gern, aber das ist er nicht. »Woher kommst du?«
Kai legt sein letztes Buch in den Spind und wendet sich, ohne etwas zu erwidern, von meinem Freund ab.
Als er an mir vorbeikommt und sich unsere Blicke wie von selbst treffen, lächele ich unbeholfen, ernte dafür aber bloß einen Ausdruck purer Ablehnung. Bevor ich mich zwingen kann, das Lächeln zu unterlassen, ist er bereits hinter mir verschwunden.
»Wohl nicht sehr gesprächig, was?«, ruft Alex ihm verärgert hinterher und wendet sich dann leiser an mich. »Für wen hält der Typ sich?«
Ich zucke teilnahmslos mit den Schultern. Dann ist Kai McKenzie eben kein netter Mensch. Wen kümmert das? Stattdessen setze ich nun ein Grinsen auf. »Du hättest jetzt mal deinen Gesichtsausdruck sehen sollen.«
Alex’ Blick ist noch immer stur auf die Tür gerichtet, hinter der Kai verschwunden ist. Dann schüttelt er den Kopf und schließt vermutlich innerlich mit dem neuen Mitschüler ab.
Gemeinsam machen wir uns auf den Heimweg.
»Hör mal …« Alex hält mich vor meinem Haus zurück, bevor ich mich verabschiede. »Ben meinte, du hättest wieder mal Streit mit ihm gesucht.«
Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Das war kein Streit. Er hat Lesley herumgeschubst, da bin ich eingeschritten und habe ihm ein paar nicht so nette Dinge an den Kopf geworfen.«
Alex seufzt. »Ich mag Ben und finde es nicht gut, wenn du dich ständig mit ihm anlegst. Das ist bloß eine seiner Phasen. Die wird vorbeigehen, so war es bis jetzt immer. Vielleicht könntest du ihn einfach in Ruhe lassen.«
Ich stoße einen abschätzigen Laut aus. »Und ich mag Lesley. Ben soll sich jemanden suchen, der ihm gewachsen ist, wenn er sich unbedingt messen will.«
»Und das bist du?«
»Jedenfalls ist es nicht der verschüchterte Junge, der es wirklich schon schwer genug hatte in den letzten Jahren.«
»Du weißt doch, warum die anderen gerne auf ihm herumhacken. Er ist eben …« Alex scheinen die passenden Worte zu fehlen.
»Wenn du jetzt anders sagst, reiß ich dich in Stücke«, warne ich ihn.
»Das hier ist ein Dorf«, versucht mein Freund, die Lage zu schlichten. »Menschen wie er sind …«, ich atme angespannt ein, »selten.«
»Das sind Rüpel wie Ben auch.«
»Hör mal, Lesley ist nett. Ich möchte ja auch nicht, dass er grob behandelt wird.«
»Dann sag deinem Freund, diesem homophoben Arschloch, dass er es lassen soll.« Ohne ein weiteres Wort lasse ich Alex stehen und betrete wenige Sekunden später den Hausflur. Erleichtert atme ich durch, als die Tür hinter mir ins Schloss fällt. Durch das Fenster daneben beobachte ich, wie Alex den Kopf hängen lässt und seinen Weg nach Hause fortsetzt.
Seufzend lasse ich meinen Rucksack auf den Boden fallen. »Mom?« Ich verharre an Ort und Stelle.
Warum rufe ich überhaupt nach ihr?
Bestimmt ist sie im Büro und wird erst spät am Abend wieder da sein. So ist es jeden Tag.
Keine Mutter. Leerer Kühlschrank. Nichts zu essen. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass das selten vorkommt. Weil mir der Magen aber bereits in den Kniekehlen hängt, mache ich mich auf den Weg zur Schule. An der Ecke derselben Straße befindet sich das Luk’s. Eine Mischung aus Café, Restaurant und Bar. Wenn Spellington nicht so winzig wäre, hätten wir sicherlich mehr Aufenthaltsorte, an denen wir nach der Schule abhängen können. Schon von weitem erkenne ich durch die bodentiefe Fensterfront, dass nicht nur ich den Einfall habe, dort den Nachmittag zu verbringen.
Auf den Straßen ist nicht viel los, was merkwürdig ist für diese Uhrzeit. Doch in der prallen Mittagssonne haben wir gefühlt vierzig Grad. Es ist unerträglich heiß, und niemand hält sich wohl länger im Freien auf, als er zwingend muss. Außer denen natürlich, die einen Garten mit Pool vorweisen können. Obwohl uns meine Mutter ein angenehmes Leben bietet und nicht wenig Geld nach Hause bringt, haben wir leider keinen.
Um mich herum herrscht Stille. In der Ferne grillt jemand, der Geruch steigt mir in die Nase. Dann wird diese Ruhe gestört und ich schaue zur Quelle des Lärms.
Ben – Gott, wie ich ihn hasse – und der Neue stehen neben dem sonst menschenleeren Spielplatz gegenüber unserer Schule.
Ich zucke zusammen, als Kai McKenzies Hand in diesem Augenblick an Bens Hals schnellt und zudrückt. »Droh mir nicht.« Obwohl er nicht laut gesprochen hat, habe ich jedes Wort gehört.
Am liebsten würde ich das Atmen einstellen, um möglichst unauffällig zu wirken. Stattdessen verschwinde ich hinter einem Baum, um nicht entdeckt zu werden. Zu neugierig bin ich, um diese Szene nicht länger zu verfolgen.
»Niemand redet so mit mir«, höre ich Ben sagen. Ich erkenne ein Lachen in seiner Stimme. »Ihr werdet alle noch sehen, was ihr davon habt.«
Plötzlich ist es still. Keine Reaktion von Kai. Eine Weile verharre ich noch an Ort und Stelle, bis ich glaube, dass die Luft rein ist und ich meinen Weg fortsetzen kann.
Ich atme entspannt durch, komme hinter dem Baum hervor und pralle geradewegs gegen jemandes Brust.
Kacke.
»Wie lange stehst du da schon?«, brummt Kai und starrt mich warnend an, als würde er jede Lüge sofort erkennen.
So viel größer ist er nicht, doch ich fühle mich in seiner Gegenwart schlagartig unglaublich klein. »Ihr habt einander gedroht, glaube ich.«
»So, das glaubst du.«
Um lässig zu wirken, ziehe ich die Schultern kurz hoch. »Ich kenne Ben gut genug, um zu wissen, dass er vermutlich angefangen hat.«
»Spielt das eine Rolle?«
Vermutlich nicht.
Mein Blick streift seine nackten Arme. Sie weisen Verletzungen auf, blaue Flecken, Blutergüsse.
Sicher nicht sein erstes Rodeo.
Das Schweigen fühlt sich komisch an. »Ich bin Hailey«, stelle ich mich also vor. »Wir sitzen nebeneinander.«
»Was du nicht sagst.«
Ich schlucke meinen Frust wegen seiner ablehnenden Art herunter und deute mit der Hand auf das Luk’s am Ende der Straße. »Hast du Hunger? Da drin ist immer viel los. Es gibt einen Kicker, Dartscheiben …«
Ausdruckslos ruht sein Blick auf mir.
Ohne ein Wort wendet er sich ab und lässt mich stehen.
Offenbar nicht der geselligste Mensch unter der Sonne.
2
Montag, 2. September
Ich hasse Montage. Vor allem jene, die mit Sport in der ersten Doppelstunde anfangen. Und ganz besonders die mit Qurandi. Lustlos schlurfe ich in Joggingsachen über den Hof. Der Wecker meiner Mutter ist in aller Früh losgegangen und hat mich gleich mit aus dem Schlaf gerissen. Im Klassenraum ist noch niemand gewesen, deshalb will ich die noch halbwegs erträglichen Temperaturen an der frischen Luft genießen.
»Hi.«
Ich hebe den Kopf von der Bank, auf der ich es mir liegend gemütlich gemacht habe, und öffne die Augen.
Vor mir steht jemand, den ich noch nie gesehen habe.
»Ray.«
Sein markantes Gesicht wird von etwas längerem, dunkelbraunen Haar zur Hälfte eingerahmt. Seine Statur ist nicht so aufgepumpt wie die der Sportler an der Schule, aber seine Arme sehen auf schlanke Weise muskulös aus.
»Entschuldige, dass ich dich überfalle«, fährt er mit einem offenen Lächeln fort. »Ich kann das eigentlich auch in ganzen Sätzen. Also nochmal, ich bin Ray Klevens und das ist mein erster Tag an der Spellington-High. Ich muss zum Sekretariat und außer dir hab ich noch niemanden entdeckt, den ich nach dem Weg fragen konnte.«
Ich stehe auf und reiche ihm der Form halber die Hand. »Hailey Blake. Das ist nicht schwer zu finden, aber wenn du willst, bringe ich dich hin.«
»Das wäre super, vielen Dank.«
Gemeinsam machen wir uns auf den Weg in das Gebäude. Noch herrscht ein angenehmes Klima auf den Gängen, gekrönt von wundervoller Stille. Die Ruhe vor dem Sturm.
»Und woher kommst du, Ray?«, erkundige ich mich.
»Ach, von weiter weg. Kennst du bestimmt nicht«, erwidert er. »Ich bin erst am Wochenende hergezogen, noch fühle ich mich hier etwas verloren. Eigentlich bin ich kein Mensch, der gerne … Wie lange lebst du schon hier?«
»Seit ich denken kann. Der Ort ist nicht groß, du wirst dich sicher bald zurechtfinden. Viel gibt es hier nicht. Wenn du was erleben willst, rate ich dir, nach Ripley zu fahren. In der Stadt herrscht mehr Trubel.«
»Trubel hatte ich genug«, murmelt Ray kaum hörbar.
»Du lebst jetzt also hier mit deinen Eltern. Geschwister?«
»Nein.« Unterstützend schüttelt er den Kopf, hält den Blick dabei gesenkt. »Also genau genommen wohne ich nicht bei meinen Eltern, sondern bei einem Freund. Er ist nicht wirklich mein Bruder, aber wir sind eine Familie.«
»Du bist quasi in eine WG gezogen? Das erlauben dir deine Eltern? Wie alt bist du?«
Kurz zögert Ray. »Siebzehn.«
Gegen den Kerl könnte man hervorragend pokern.
Ich seufze und formuliere nach einem Moment des Schweigens die Frage so freundlich, wie ich kann. »Was stimmt mit dirnicht? Wer bist du?«
Eigentlich rechne ich nicht mit einer ehrlichen Antwort. Immerhin kennen wir uns kaum. Es gibt keinen plausiblen Grund, wieso er mir vertrauen sollte. Für ihn bin ich eine Fremde. Umso überraschter bin ich, als er tief Luft holt.
»Kai ist meine Familie, weil er alles ist, was ich noch habe. Er war da, als die Polizei an meiner Haustür geklingelt und mir mitgeteilt hat, dass meine Eltern auf dem Rückweg vom Restaurant verunglückt sind. Er war an meiner Seite, als ich begriffen habe, was das bedeutet.«
Ich halte ihn zurück, suche nach den richtigen Worten.
»Da wir in diesem tollen Land mit siebzehn nicht allein über unser Leben bestimmen dürfen, hat die Fürsorge mich in ein Heim gesteckt. Auf der Beisetzung meiner Eltern bin ich weggelaufen.«
Sätze überschlagen sich in meinen Gedanken und ich bin selbst überrascht, welcher es über meine Lippen schafft, als ich den Mund öffne. »Redest du von Kai McKenzie?«
Ray sieht mich mit hochgezogenen Brauen an. Dann wechselt der Ausdruck in seinem Gesicht. »Was hat er getan?«
»Wie meinst du das?«
»Du hast seinen Namen so … Wir kennen uns unser ganzes Leben. Ich weiß, dass er manchmal …«
»Du wohnst also bei Kai«, bemerke ich. »Aber was sagen seine Eltern dazu?« Ich versuche, mir die Umstände zusammenzureimen. »Es ist eine große Sache, dass du einfach verschwindest. Denkst du nicht, dass sie es melden werden?«
»Kai kam allein her«, weist Ray mich darauf hin. Es hat geklungen, als ob ich davon wissen müsste.
»Also ist erschon volljährig?«
Unsere Blicke treffen sich, eine Antwort erhalte ich nicht.
Scheinbar wartet er auf eine Reaktion. Auf eine Entscheidung.
Ich will ihnen ihre Anwesenheit nicht erschweren, mich nicht in ihre Gründe dafür einmischen.
Ray möchte in der Nähe des einzigen Menschen bleiben, der für ihn noch die Bedeutung von Familie hat.
Ich nicke und beschließe, mich mit den Umständen abzufinden. »Am besten behauptest du, dass deine Eltern dich hier wohnen lassen. Falls mal jemand danach fragt.« Noch einmal nicke ich. »Niemand sollte erfahren, dass du Waise bist. Wissen Kais Eltern, dass er hier ist?« Erneut sehe ich diesen merkwürdigen Ausdruck in Rays Augen. »Ach, was frage ich eigentlich …« Er lächelt verlegen. »Wo wohnt ihr?«
»Kai besitzt ein Haus am Ende der Gallan-Road.«
Ich stoße ein Lachen aus. »Wer ist der Typ?«
Ray senkt den Blick. »Du musst nur wissen, dass er genug Geld hat, damit wir davon leben können. Frag ihn bitte niemals nach dem Warum, in Ordnung?«
Das habe ich nicht vor, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen vor sich geht. Aber diese ganze Sache ist nicht mein Problem. Es geht mich nichts an, was sie hier treiben und was sie hergeführt hat. An mir soll ihr Erfolg nicht scheitern.
Mit diesem Gedanken endet unser kleiner Ausflug. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass wir uns langsam auf den Weg in die Sporthalle machen sollten. Bei Qurandi zu spät zu kommen, trägt nicht zu seiner Zufriedenheit bei.
Ray braucht nur wenige Minuten, bis er das Sekretariat wieder verlässt. Ich beschließe, ihm auf dem Weg noch den Klassenraum zu zeigen.
Der Hof ist wie leergefegt, als wir das Verwaltungsgebäude verlassen. Auch in den Schulfluren, die normalerweise um diese Uhrzeit von Hektik erfüllt sind, ist nicht eine Menschenseele, als wir das Gebäude betreten.
»Ist es hier immer so still?« Ray lächelt, doch in seinen Augen liegt die gleiche Verwunderung, die ich verspüre.
Nein, es ist niemals ruhig in dieser Schule. Selbst wenn alle Klassen im Unterricht sind, hört man wenigstens leise Stimmen aus den Räumen dringen.
Auf dem Flur liegen vereinzelt Rucksäcke, als seien sie lieblos abgeworfen worden. Die absolute Stille um uns herum frisst sich wie ein ungutes Gefühl in meinen Bauch.
»Suchen wir jemanden«, äußere ich leise.
Auch der nächste Gang ist auf den ersten Blick wie leergefegt. Intuitiv greife ich nach der Klinke zu meinem Klassenraum und drücke die Tür vorsichtig auf. Doch dann erkenne ich, dass etwas am anderen Ende des Flurs auf dem Boden liegt. Ich kneife die Augen zusammen, um es besser sehen zu können.
Das ist ein Körper!
»Julie«, hauche ich bloß.
Sie rührt sich nicht. Wirkt, als würde sie mitten im Gang ein Schläfchen halten. Nur dass ihr Kopf nicht auf einem Kissen, sondern in einem ungleichmäßigen, roten Kreis auf dem Boden liegt. Ihr Blick ist starr auf die Wand gerichtet. An dieser befinden sich Spritzer.
Ein Schrei bahnt sich den Weg durch mein Innerstes. Doch bevor er hinausdringt, hindert mich eine Hand auf meinem Mund daran. Ruckartig werde ich zur Seite gerissen.
Kai McKenzie drückt mich an die Wand. Hinter ihm eilt Alex zur Tür und schließt sie leise. Das alles geschieht in gefühlt einer Sekunde. Ray presst sich selbst die Hand auf die Lippen.
Meine Augen suchen den Raum ab. In der Ecke kauert Thalia, wippt vor und zurück, hält sich die Ohren zu und kneift die Augen zusammen. Sonst ist niemand bei uns.
Ich selbst zittere und gebe mir alle Mühe, den Anblick von Julie aus meinen Gedanken zu verdrängen. Ihr lebloser Körper, die vor Angst aufgerissenen Augen, das Blut. Es gelingt mir nicht. Meine Finger krallen sich in Kais Armen fest. Nicht bewusst. Ich kann es nicht verhindern.
Der starrt mich eindringlich an und ermahnt mich damit, still zu sein. Das tut er eine gefühlte Ewigkeit. Bis sich meine Atmung verlangsamt und ich mich beruhige. Erst mein Nicken bringt Kai dazu, von mir abzulassen. Er lässt mich los, weicht zurück und stellt sich dicht an die Wand neben der Tür.
Alex’ und mein Blick treffen sich.
Ich eile in seine Arme und fühle mich ein bisschen besser, als er mich fest an sich drückt. »Was geht hier vor sich?«, flüstere ich.
Mein bester Freund schüttelt fassungslos den Kopf, wie in Trance. »Es ist Ben. Er läuft Amok.«