Infos
High Fantasy, empfohlen ab 16 Jahren
Seitenzahl: 400
Einzelband, erschienen am 8. Januar 2021
Relaunch von „Thyra und die Hexenjäger“, mit überarbeitetem Inhalt und neuem Cover
erhältlich als Ebook bei Amazon (Kindle Unlimited) und als Taschenbuch sowie gebundene Ausgabe in allen gängigen Shops und im Buchhandel.
Klappentext
In Thyras Blut fließen besondere und magische Kräfte. Sie ist eine Hexe. Man nennt sie Wächterin. Ihr Zuhause ist eine Welt neben unserer, bevölkert von magischen Wesen. In ihr wütet ein Krieg, angeführt von einem grausamen Hexenmeister.
Tristan verlor seine Mutter durch die Hand einer Hexe. Geblendet von dem Gedanken an Rache, fristet er sein Dasein als Hexenjäger, auf der Suche nach der Mörderin seiner Mutter.
Trotz ihrer Unterschiede schließen beide einen Pakt: Thyra hilft Tristan bei seiner Suche, dafür unterstützen er und seine Jäger sie im Krieg gegen den mächtigen Hexenmeister. Doch eine uralte Prophezeiung sagt ihr Scheitern voraus.
Werden Thyras Wunsch nach Frieden und Tristans Sinn nach Rache ausreichen, um die magische Welt zu retten?
Dauer: 8 Stunden und 40 Minuten
gelesen von Nick-Robin Dietrich
veröffentlicht durch den Saga Egmont Verlag
Leseprobe
Prolog
Ein Jahr zuvor
Ihre Waffen glänzten im Mondlicht und die Äste knackten leise unter ihren schweren Stiefeln, als die Jäger durch das Dickicht schlichen. Wieder hatten sie eine gefunden und sie mussten handeln, bevor es zu spät war.
Die Hexe kniete auf dem Boden, die Hände aneinandergelegt. Sie hörte sie kommen. Es war an der Zeit, sich ihnen entgegenzustellen. Sie konnte nicht länger davonlaufen und es verheimlichen. Man hatte sie überführt, und endlich war sie soweit, ihr wahres Ich zu zeigen.
Die Jäger sahen sie auf dem Boden knien, scheinbar betend. Je näher sie schlichen, desto angespannter wurden sie, denn sie durften sie nicht unterschätzen. Ein schleifendes Geräusch ertönte, als der Erste von ihnen die geschärften Klingen seiner Dolche aneinander wetzte. Er war bereit, ihr das Metall ins Herz zu stoßen.
Als sich die Schritte näherten, stand die Hexe langsam auf und sprach in Gedanken ein letztes Gebet zur Göttin. Sie brauchte Kraft, um diese Nacht durchzustehen. Jeder Einzelne der Jäger ebenfalls. Also betete sie.
»Heute wirst du sterben, Kreatur.«
Es klang wie das schrecklichste Wort in ihren Ohren und gab ihr das Gefühl, ein Monster zu sein. Aber sie war keines. Sie gehörte zu den Guten. Das würde jeder von ihnen zwangsläufig einsehen müssen. Die Jäger hatten sie aufgespürt und waren mit Pistolen und Dolchen bewaffnet, doch nichts davon vermochte ihr Schaden zuzufügen.
Als sich die Hexe zu ihnen drehte, blickte sie nicht in entschlossene Gesichter. Sie alle zeigten schlagartig Angst. Nicht, weil sie das Wesen war, das die Jäger vermutet hatten, sondern weil man sie kannte. Mit einigen von ihnen war sie vor Jahren zur Schule gegangen, ja sogar befreundet gewesen. Silas, ihr Ältester, war ein Arbeitskollege ihres Stiefvaters.
Doch die Jäger durften sich nicht beirren lassen, starrten ihr in die Augen, zögerten jedoch. Es traf sie wie ein Schlag, mitten ins Gesicht. Aber die Frau, die dort vor ihnen stand, durfte nicht verschont werden. Es war der Tag, an dem sie jemanden töten mussten, dessen Namen sie kannten.
Die Hexe würde sich nicht wehren. Sie spielte nicht eine Sekunde mit dem Gedanken, einen der Männer zu verletzen, obwohl es ein Leichtes für sie gewesen wäre. Doch ihr war bewusst, dass sie gute Menschen vor sich hatte. Schon lange wusste sie, wer sie insgeheim waren und was sie taten, wenn die Nacht einbrach. Nur machten sie seit jeher einen schrecklichen Fehler. Und der Tag war gekommen, um sie damit zu konfrontieren.
Silas schluckte schwer, näherte sich ihr dann aber in großen Schritten. Sie starrte ihm unentwegt in die Augen und setzte ein Lächeln auf, als der Jäger vor ihr zum Stehen kam. Er stutzte, kannte sie ihr ganzes Leben. Sie und sein Sohn waren jahrelang in die gleiche Schule gegangen. Er konnte kaum glauben, dass ausgerechnet sie eine von ihnen war. Eine von den Kreaturen, die er sich zu töten geschworen hatte. Und nun musste er es tun. Nur so würde er seine geliebte Suey in Ehren halten.
Die Hexe lächelte ihn an und gab ihm die Möglichkeit, sich davon bezaubern zu lassen. Sie hätte ihn dazu zwingen können, aber sie tat es nicht. Keiner der Jäger wich zurück, in ihren Mienen lag pure Entschlossenheit. Sie breitete ihre Arme aus und richtete die Augen gen Himmel, atmete ruhig und entspannt.
Silas wusste nicht, was sie bezweckte. Die Situation, die sich ihm bot, war einmalig. So leicht war es noch nie gewesen. Er stand vor ihr, mit dem geweihten Dolch in der Hand. Er musste es tun, hob seinen Arm und warf einen letzten Blick in ihr Gesicht. Sie hielt die Augen geschlossen, die Mundwinkel noch immer zu einem Lächeln verzogen. Ihre blonden Haare glänzten golden im Mondlicht. Er setzte die Spitze der Klinge an ihren Oberkörper an und rechnete fest mit einer Reaktion, doch sie stand nur da und rührte sich nicht. Und so zog er die Klinge zurück und stieß dann zu.
Die Hexe konnte nicht leugnen, dass sie Schmerzen empfand, als sich das Metall in ihren Körper bohrte. Sie sog das Mondlicht auf und dachte an die Göttin, fühlte sich durch ihre Anwesenheit gestärkt. Als die Klinge ihren Oberkörper wieder verließ, ließ sie sich engelsgleich auf die Knie sinken und erstarrte in einer Verbeugung vor den Feinden, die einst ihre Freunde gewesen waren.
Silas stieß sie an und sie fiel rücklings zu Boden. Ihre Arme fielen neben ihren Kopf und sie öffnete die Augen. Das Mondlicht blendete sie für einen Augenblick, dann versperrten ihr die Köpfe der Jäger die Sicht, die neugierig auf sie herunterblickten. Sie sah Befriedigung in ihren Gesichtern. Freude darüber, dass sie wieder eine von ihresgleichen beseitigt hatten. Sie ließ sie einige Sekunden in ihren Gefühlen schwelgen, bevor sie ihre Fassungslosigkeit herbeiführen musste.
Silas starrte auf die Klinge und traute seinen Augen kaum. Wechselnd, mit Angst und Unsicherheit im Blick, sah er von der silbernen, glänzenden Schneide auf die Frau hinab und wieder zurück. Seine Schützlinge hatten sich um sie herum versammelt. Sie lag im Gras und rührte sich nicht. Doch ihm war bereits klar, dass er gleich sterben würde. Jeder der Jäger. Sein Blick fiel erneut auf die Klinge in seiner Hand. Es befand sich nicht ein Tropfen Blut daran.
Die Augen der Jäger zeigten nur ein einziges Gefühl. Die Hexe konnte ihre Angst deutlich erkennen, als sie sich langsam aufrichtete. Sie glaubten, etwas ausfindig gemacht zu haben, was sie schon zu Dutzenden getötet hatten. Aber diese Hexe war nicht wie die anderen. Sie, die man in ihrer Welt eine Wächterin nannte, war etwas Besonderes und unverwundbar durch die Waffen der Männer, die vor ihr standen. Sie war geschützt durch die Magie, die in ihren Adern floss. Und nun, wo die Jäger begriffen hatten, dass sie sie nicht töten konnten, war es an der Zeit, sie darüber aufzuklären, welchen Fehler sie begingen. Für eine neue Ära, eine bessere Zukunft und die Möglichkeit, gemeinsam diesen Weg zu gehen, um die Welten ein kleines Bisschen besser zu machen.
Und so begann sie: Die Geschichte von Thyra, der Wächterin der Hexen, die einen Pakt mit dem Feind schloss.
1
Gegenwart
Tristan kehrt zurück
Morgen, 18. Oktober in der Menschenwelt
Obwohl Thyra eine begabte Hexe war und sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als endlich nach Morac zu ziehen und sich rund um die Uhr wie eine Hexe verhalten zu können, gab es diese Pflichten, die ihre Mutter ihr auferlegte. An manchen Tagen kam sie sich vor, als wäre sie noch immer ein Teenager. Dabei war sie längst erwachsen und wartete mit ihrem Umzug lediglich auf ihren jüngeren Bruder, der noch das letzte Jahr der Schule absolvieren sollte, bevor man ihm gestattete, seinen Wünschen zu folgen. Und so saß Thyra seit beinahe drei Jahren in ihrem Elternhaus fest, ohne etwas mit ihrer Zeit anzufangen zu wissen. Eine Ausbildung kam für sie nicht infrage, immerhin legte in Morac niemand Wert darauf. Dort hatte sie bereits eine Aufgabe. Ihr Schicksal war es, dort ihren Platz als rechtmäßige Wächterin der Hexen einzunehmen. Wenn es nach Thyra ginge, säße sie schon längst im Ratsraum mit den Vorständen der Trolle, Kobolde, Zwerge und Elfen, um einen Plan zu schmieden, den seit Jahren andauernden Krieg mit den Maleficas zu beenden. Doch ihre Mutter hatte sie gebeten, zu warten, bis ihr Bruder Aramis sie begleiten konnte. Die Geschwister glaubten, dass es nur der verzweifelte Versuch einer Mutter war, ihre Kinder zu halten. Sie sahen die Hoffnung in ihren Augen, dass die beiden ihre Meinung bis zum besagten Tag ändern würden. Aber Thyra und Aramis waren sich in nichts so sicher wie in dieser einen Sache. Sie wollten in Morac leben – unter ihresgleichen.
Als um sieben Uhr morgens Thyras Wecker läutete, konnte sie kaum glauben, dass es bis zum Sommer noch so ewig hin war. Er bedeutete das Ende einer langen Wartezeit. Doch es war erst Herbst, die Oktoberferien standen kurz bevor. Wenigstens konnten Thyra und Aramis für ganze drei Wochen die Menschenwelt verlassen.
Nun aber dröhnte das Klingeln des Weckers in ihren Ohren und ermahnte sie, aufzustehen. Eigentlich ein sinnloses Unterfangen, denn sie würde sich erst am Nachmittag mit den Jägern treffen, um der einzigen Aufgabe nachzukommen, die es unter den Menschen für sie gab. Die Jagd nach Maleficas, die sich in dieser Welt breitmachten.
Thyra seufzte und blieb einen Moment auf der Bettkante sitzen, um sich zu sammeln. Obwohl sie vor einem Jahr den Pakt mit ihren Feinden geschlossen hatte, konnte sie an manchen Tagen nur schwer glauben, dass sie eine Hexe war, die Hexen jagte.
Böse Hexen, rief sie sich dann in Erinnerung, um ihr Gewissen zu erleichtern. Was sie aufspürten, hatte nichts gemein mit dem, wofür Thyra stand. Sie selbst war eine Arush, eine weiße Hexe, eine gute. Die Seele einer Malefica hingegen war verdorben und sie lebten in dieser Welt einzig dafür, Unheil zu verbreiten, während sie in Morac Dörfer plünderten und jeden aus Spaß töteten, den sie dabei vorfanden. Einst bestanden die Arush und Maleficas bloß aus Hexen, doch in den letzten Jahrzehnten hatten sich auch andere Völker den so verschiedenen Seiten angeschlossen. Während Thyra zu ihrem Volk magiebegabte Hexen, fleißige Zwerge, kluge Kobolde, sanftmütige Elfen und kräftige Trolle zählen konnte, so gab es aus jeder dieser Gattungen jene, die zu den Maleficas übergelaufen waren. Und mehr noch, vor einigen Jahren hatte Nukleo, ein böser Hexenmeister und ihr Anführer, die einst neutralen Werwölfe ebenfalls für sich gewinnen können. Thyras Zuhause – eines der Dörfer in Morac – war zum Glück noch nie von ihnen überfallen worden. Aber die Gefahr war stets präsent, denn nichts außer dem Schattenwald trennte die Reiche voneinander.
Obwohl Thyra der Gedanke schmerzte, in eine gespaltene Welt auszuwandern, freute sie sich auf die Aufgaben, die vor ihr lagen. Sie war die ranghöchste Hexe in Morac, ihr Vorstand, eine Art Königin, wenn man so wollte.
Bis es aber so weit war, konnte sie ihre Zeit in Lupor genießen. In Frieden, an der Seite ihrer Familie. Auf Hexenjagd mit den Jägern, die in der Schule ihre Freunde gewesen waren, mit Offenbarung ihrer Herkunft zu Feinden wurden und nun – ein Jahr, nachdem sie einen Pakt geschlossen hatten – beinahe wieder Freunde. Das hoffte Thyra zumindest.
Sie gähnte, streckte sich einmal und schwang sich dann von der Bettkante. Der Vorteil daran, eine Hexe zu sein, bestand vor allem in einer Sache. Man konnte viele Dinge wesentlich schneller erledigen. Dazu zählten auch das Anziehen von Kleidung und das Richten der Frisur.
Nachdem sie aus der Dusche trat, starrte sie in den Spiegel und sah, dass ihr blondes Haar wild von ihrem Kopf abstand. Sie liebte den Farbton, denn er unterschied sie gleich auf den ersten Blick von all den anderen Hexen. Sie wusste nicht, wieso es sich im Lauf der Jahrhunderte so entwickelt hatte, aber die Farbe des Haares gab bei einer Hexe stets Aufschluss darüber, wie mächtig sie war. Blondes Haar hatte nur eine Wächterin, von der es nie mehr als eine zur selben Zeit gab. Wenn Thyra eines Tages starb, würde ihre Macht auf ein ungeborenes Kind im Mutterleib übergehen und dieses zur neuen Wächterin bestimmen. Hatte eine Hexe bei ihrer Geburt rotes Haar, so rechnete man damit, dass sie eines Tages stark und mächtig war. Vor einigen Jahrzehnten wurden jene meist eine Cailleach, eine Richterin der Hexen, die mit den Gesetzen und daraus resultierenden Strafen beauftragt war. Doch als Nukleo an die Macht kam, verlor sich der Richterrat, und die meisten Cailleach starben bei dem Versuch, dem Hexenmeister die Stirn zu bieten. Schwarzes Haar hingegen war weit verbreitet. Der Großteil aller Hexen hatte welches, und es räumte ihnen die Möglichkeit ein, ein normales Leben zu führen, ohne einem Schicksal folgen zu müssen.
Thyra schmunzelte. Haarfarben bei der Geburt wiesen zwar auf eine wahrscheinliche Entwicklung hin, aber am Ende hatte jede Hexe die Chance, mächtiger zu werden. Ihre Mutter war eine von ihnen. Sie hatte einst in einem Kampf gegen Thyras leiblichen Vater eine solch enorme Kraft aufgewandt, dass sich ihr schwarzes Haar daraufhin weiß verfärbte. Damit wurde niemand geboren. Es war ein Zeichen für Macht, die man sich erarbeitet hatte.
Thyra zauberte ihres nun mit einem Schnippen gepflegt glatt und zwinkerte ihrem Spiegelbild zufrieden zu.
Auf dem Weg nach unten streifte ihr Blick wie immer ihre Umgebung. Äußerlich, wenn man durch das Fenster sah, wirkte ihr Haus absolut normal. Sobald man es jedoch betrat, wurde einem klar, dass man von Magie umgeben war. Der Fußboden bestand aus knarrenden Dielen, die Treppe zur oberen Etage war morsch. Folgte man den Stufen, konnte man eine ganze Ahnengalerie an der Wand entdecken. Auf Dutzenden Fotos waren Verwandte und Freunde abgebildet, sie alle Hexen, Kobolde und Feen.
Thyra hüpfte die Stufen hinab, die bei jedem Schritt knarzten. In der Küche umarmte sie ihre Mutter und ihren Bruder. Anschließend knuddelte sie Jaromir, ihren Haustroll. Normalerweise waren Wesen wie er nicht auf körperliche Zuneigung aus, aber er ließ es über sich ergehen, weil er zu höflich war, um sich zu beschweren.
»Guten Morgen«, erwiderte er nur freundlich und stakste dann zurück in die Küche, wo er gerade mit der Zubereitung des Frühstücks beschäftigt war.
Thyra nahm wortlos am Tisch Platz, als Shywa den Kopf hob und sie lächelnd musterte. »Liebes, bleibt es bei dem Abendessen?«
»Ja«, antwortete Thyra ihrer Mutter. »Wir haben vorher noch diese Sache zu erledigen, aber danach kommen wir, versprochen.«
»Dass du mir nur gut auf sie aufpasst.«
Thyra schmunzelte. Seit sie mit den Jägern bei der Abenddämmerung loszog, um auf Jagd nach Maleficas zu gehen, lag dort immer dieser sorgenvolle Ausdruck in den Augen ihrer Mutter. Sie machte sich keine Sorgen um ihre Tochter, denn sie wusste, dass Thyra auf sich achten konnte. Aber ihr war bewusst, dass jede böse Hexe eine Gefahr bedeutete. Und sie wusste, dass Thyra die Jäger ins Herz geschlossen hatte. Dass sie der Feind waren, störte die Hexen im Haus nicht, denn man sah sie als Freunde an, obwohl Silas vor einem Jahr versucht hatte, Thyra mit einem Dolch zu töten. Lediglich Aramis war von der häufigen Anwesenheit der Jäger nicht angetan. Er ging ganz in dem auf, was er war, und für ihn war es noch immer unnatürlich, Menschen in seinem Haus willkommen zu heißen.
»Bist du schon gespannt?« Er warf die Frage so beiläufig in den Raum, dass Thyra einen Moment überlegen musste, wovon er sprach.
»Auf Tristan?«, hakte sie nach. Ihr Bruder nickte zustimmend. »Er war lange weg. Bestimmt wird es ihn umhauen.« Von Silas wusste sie, dass er bisher vermieden hatte, bei den gelegentlichen Telefonaten das Thema der gemeinsamen Jagd anzusprechen. Tristan war ganz in dem Glauben aufgewachsen, dass Hexen schlecht waren. Für ihn gab es keinen Unterschied, keine Arush und Maleficas. Nur diese schlimmen Kreaturen, von denen eine vor vielen Jahren seine Familie zerrüttet hatte.
Aiden, Thyras Stiefvater, hakte die Finger ineinander und legte die Hände auf dem alten Holztisch ab. »Wer war noch mal dieser Tristan?«
Shywa grinste, sogar Aramis konnte es sich nicht verkneifen.
Thyra lächelte verlegen. »Du kennst ihn. Groß, sportlich, dunkle Haare und typisch Mensch. Mama hat immer gesagt, dass aus ihm mal ein stattlicher, junger Mann wird.« Erst als Aidens Grinsen breiter als das ihrer Mutter wurde, verstand sie, dass er sie veralberte. »Oh, jetzt tu nicht so, als hättest du vergessen, dass wir seit der Grundschule Freunde gewesen sind. Du willst nur, dass ich ausspreche, was alle hier von mir hören wollen.«
In Wahrheit fand sie, dass Tristan schon immer äußerst ansehnlich gewesen war. Ihre Mutter mochte es stattlich nennen, Thyra fiel automatisch nur das Wort heiß ein. Die Tatsache, dass sie heimlich in ihn verknallt gewesen war, war in diesen vier Wänden kein Geheimnis.
»Wir werden sehen, was aus ihm geworden ist«, bemerkte sie schließlich. »Er war die letzten zwei Jahre bei Verwandten im Ausland, brauchte Abstand vom Vater und der Jagd nach Hexen. Das hat Silas mir zumindest erzählt. Was genau hinter seinem Verschwinden steckt, werden wir wohl nie erfahren.«
Thyra wusste, dass es ihrem Stiefvater mit seiner Neckerei nicht darum ging, dass Tristan ein Jäger war. Für ihn war er nur ein junger Mann, auf den es zu achten galt.
Aramis meldete sich zu Wort. »Damals standet ihr euch nahe, aber er wusste nicht, werdu wirklich bist. Stell dich darauf ein, dass er versuchen wird, dich zu töten.«
Thyra seufzte. »Er wird einsehen, dass er das nicht kann. Aber ja, er wird es mit Sicherheit versuchen. Er war schon damals durch und durch ein Jäger.«
Jaromir kam in kleinen Schritten auf sie zu und blickte mit seinen Kulleraugen zu ihr hoch. »Soll ich für den Rückkehrer ein Hexengericht kochen oder lieber etwas für Menschen?«
Thyra glaubte kaum, dass Tristan so bald bereit war, in diesem Haus zu Abend zu essen, wenn er erst Bescheid wusste. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie schon damals das Haus hatte verhexen müssen, damit ihm nie auffiel, wo er sich wirklich befand.
»Ich wäre mal wieder für die gute, alte Hexenküche«, schaltete Aramis sich ein.
Thyra sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. »Isst du etwa mit uns zusammen?«
»Nein«, entgegnete er direkt. »Jaro kann mir etwas hochbringen. Du hast diese Menschen gern, aber ich fühle mich in ihrer Gegenwart nicht wohl. Es ist und bleibt gegen die Natur der Dinge, dass eine Hexenfamilie eine Gruppe von Jägern beköstigt.«
Das stimmte. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Der Krieg hatte das bewirkt. Die Gefahr, die über Morac schwebte, und die der Maleficas in Lupor, brachte eine neue Ära. Sie machte aus dem Feind des Feindes einen Freund.
Als Thyra am Nachmittag durch die Einkaufsgasse in Lupor schlenderte, um einige Besorgungen zu machen, rechnete sie nicht damit, einen der Jäger dort anzutreffen. Vor allem nicht den einen, auf den sie sich insgeheim so sehr freute. Doch als sie nach ihrer Shoppingtour in ihrem Lieblingscafé saß, wurde der Stuhl gegenüber ruckartig nach hinten gezogen und ließ sie kurz erschrecken.
Tristan drehte ihn um, setzte sich verkehrt herum darauf und legte die Arme auf die Rückenlehne. »Die kleine Thyra.« Seine Stimme klang selbstbewusst, so wie früher. Er hatte noch immer den starken Ausdruck in den Augen, das freche Grinsen und diese lockere Körperhaltung. Nur älter war er geworden. Ein leichter Drei-Tage-Bart zierte sein Gesicht, die Haare waren kürzer. Früher hatte er sie bis zu den Schultern getragen, und obwohl Thyra das bei Männern alles andere als ansehnlich fand, hatte es ihm hervorragend gestanden.
Er sah einfach immer noch unverschämt gut aus, dachte Thyra augenblicklich.
Sie erwiderte bloß ein sanftes Lächeln, um sich ihre schier endlose Freude nicht anmerken zu lassen. »Was tust du hier? Finley wollte jetzt am Bahnhof sein, um dich abzuholen.«
»Du hast dich kaum verändert.« Seine grünen Augen durchbohrten sie.
»Tristan, ruf ihn wenigstens an.«
»So wie er mich? Ich kann die Male der letzten zwei Jahre an beiden Händen abzählen.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe einen früheren Zug genommen, weil ich keine Lust auf den Empfang hatte.«
»Seit du gesagt hast, dass du nach Hause kommst, ist Finley wie ein kleines Kind kurz vor Weihnachten. Er hat sich auf dich gefreut.«
»Und ich mich auch auf ihn. Nur eben nicht ganz so sehr, wie auf dich«, sagte er und zwinkerte mir zu.
Thyra grinste. »Wow, da frage ich mich doch, wieso ich nicht einen einzigen Anruf von dir erhalten habe in all der Zeit.«
»Was hätte ich denn sagen sollen?«
»Du hast recht. Mir fällt nach gemeinsamen dreizehn Jahren auch nicht mehr ein, wieso ich sie überhaupt mit dir verbracht habe«, erwiderte sie bloß mit einem Grinsen. Sie hängte sich den Gurt ihrer Tasche über die Schulter, legte Geld auf den Tisch und verließ das Café.
Tristan folgte ihr. »Was hast du so getrieben, als ich weg war?«
»Du meinst, als die Welt stillstand, weil du beschlossen hast, uns den Rücken zu kehren?«
»Ich bin doch nicht vor dir geflohen. Nur vor dem Leben hier.«
»Du bist zurück.« Thyra schlenderte neben ihm her. Es fühlte sich unfassbar gut an, ihm endlich wieder nah sein zu können. Sie war in keiner Weise wütend auf ihn, weil er fort gewesen war und nie angerufen hatte. Immerhin verstand sie besser, als er ahnte, warum. »Was ist passiert, dass du deine Flucht aufgegeben hast?«
Tristan hielt abrupt inne und Thyra drehte sich zu ihm. Er wich ihrem Blick nicht aus, starrte sie geradewegs an. Sie schmolz beinahe dahin, weil sie von seiner Erscheinung so überwältigt war. Er war tatsächlich stattlich, wie ihre Mutter es vorausgesagt hatte. Er wirkte stark und selbstsicher.
»Ich habe eingesehen, dass das hier nun mal mein Leben ist. Ich mag es nicht, aber an der Seite meines Vaters zu sein und … Manche Dinge sind eben ein Teil von uns, den wir nicht ablegen können.«
Er hatte sich also für diesen Weg entschieden. Erneut. Es ehrte ihn. Er wollte die Welt ein kleines Stückchen besser machen.
Tristan griff an den Gurt von Thyras Tasche und zog sie herunter. Dann schwang er sie sich lässig über die Schulter und lächelte sie an. »Kann ich dich nach Hause bringen?«
Die Frage erübrigte sich von selbst, als er sich zielstrebig auf den Weg machte. Ihr blieb nur die Möglichkeit, ihm zu folgen.
»Es muss schön für dich sein, dass du nun weißt, wo du hingehörst«, setzte sie zögernd das Gespräch fort.
»Freiwillig bin ich natürlich nicht hier.« Tristan schüttelte leicht den Kopf. »Doch mich hält hier etwas.«
Auch wenn er sich offensichtlich nicht freute, zurück in Lupor zu sein, Thyra tat es umso mehr. Sie lächelte. »Schön, dass du wieder da bist.«
Tristan warf ihr einen freudigen Blick zu und nickte. »Du und die anderen, ihr habt euch also angefreundet?«, erkundigte er sich. »Ich dachte immer, dass du nur Zeit mit ihnen verbracht hast, weil ich es getan habe.«
»Manchmal stellt man fest, dass man mehr gemeinsam hat als eine spezielle Person.«
»Nicht, dass ich jetzt teilen muss.«
Thyra machte eine abwehrende Handbewegung und lachte. »Keine Sorge, ich nehme dir Finley schon nicht weg.«
»Eigentlich spreche ich von dir.«
Überrascht hielt Thyra an. So viele Jahre waren sie Freunde gewesen, doch nie hatte er so etwas zu ihr gesagt. Anstatt sich darüber zu freuen, seufzte sie. »Nicht ein einziger Anruf, Tristan.«
»Ich weiß«, erwiderte er einsichtig. »Dafür entschuldige ich mich.«
»Und nun? Was möchtest du denn? Wünscht du dir, dass alles wieder so wird, wie es mal gewesen ist? Sind wir doch mal ehrlich, Tristan. Wir haben uns schon nach der Schule aus den Augen verloren und kaum noch Kontakt gehabt. Dann bist du verschwunden. Du warst zwei Jahre weg.«
»Du hast damals auch immer gesagt, du würdest eines Tages gehen, erinnerst du dich?« Sein Lächeln schaffte es wieder mal, sie total zu verzaubern. »Klingt jetzt vielleicht wie eine Ausrede, aber ich hatte Angst davor, dass du eines Tages verschwindest. Es klang bei dir immer so endgültig.«
»Also hast du gedacht, du verdrückst dich als Erster?«
»Nicht meine beste Entscheidung, was?«
Thyra lächelte. »Nein, du hast schon recht. Ich wollte immer gehen und ich werde es tun. Im nächsten Sommer ziehe ich weg.«
Tristan ließ die Schultern hängen und stieß einen wehmütigen Seufzer aus. »Ich hätte anrufen sollen, oder?«
»Ja«, antwortete Thyra und nickte, um zu unterstreichen, wie sehr sie sich darüber gefreut hätte. »Aber so oder so … Mein Umzug ist unausweichlich.«
Sie hatte keine Wahl. Selbst wenn sie bleiben wollte … In Morac wartete man seit Jahren auf ihre Rückkehr. Sie musste ihren Platz als Wächterin der Hexen einnehmen. Darauf konnte sie nicht verzichten. Nicht für einen Mann. Und erst recht nicht für einen Jäger.